September 30, 2010

Die Christenheit oder Europa


Walter Jeschke: Der Streit um die Romantik (1820-1854)

S. 108-116) Heine unterstellt Schelling also eine enge Beziehung zu seinen Münchner Gegnern von der katholischen Erneuerungsbewegung, den sogenannten Kongregationisten, die es aber nicht gegeben hat. Wahrscheinlich war er wirklich nicht besser informiert, auch wenn diese vermeintliche Kumpanei allzu gut in sein Konzept passte. An Schellings Wirken in München knüpft er einen Frontalangriff gegen den politischen Katholizismus, dessen Heftigkeit nicht nur in der Sache, sondern in persönlicher Betroffenheit (der antisemitische Angriff in der "Eos" gegen ihn, die Versagung der Münchner Professur) begründet ist:

Herr Schelling muss jetzt dazu dienen, mit allen Kräften seines Geistes die katholische Religion zu rechtfertigen, und alles, was er unter dem Namen Philosophie jetzt lehrt, ist nichts anderes als eine Rechtfertigung des Katholizismus. Dabei spekulierte man noch auf den Nebenvorteil, dass der gefeierte Name die weisheitsdürstende deutsche Jugend nach München lockt und die jesuitische Lüge, im Gewand der Philosophie, sie desto leichter betört. Andächtig kniet diese Jugend nieder vor dem Manne, den sie für den Hohepriester der Wahrheit hält, und arglos empfängt sie aus seinen Händen die vergiftete Hostie.

(Interessant sind hier wie beim vorhergehenden Zitat die Striche des Zensors im protestantischen Druckort Altenburg bei der "katholischen Propaganda" und der "jesuitischen Lüge".)
Der Abschnitt über Schelling wird mit einer erneuten Verurteilung seiner Willfährigkeit abgeschlossen, "selbst die extravagantesten Lehrsätze der römisch-katholisch apostolischen Kirche" zu justifizieren (im selben Zusammenhang wird Hegel vorgeworfen, philosophisch die Interessen des preußischen Staates zu rechtfertigen). Die deutschen Philosophen (in einer Vorstufe heißt es: "die Münchner Philosophen") versuchten, die Religion durch die Philosophie zu retten, und dagegen geht Heine mit bemerkenswertem rhetorischen Aufwand vor:

Es kümmert uns wenig zu untersuchen, ob diese Philosophen einen uneigennützigen Zweck haben. Sehen wir sie aber in Verbindung mit der Partei der Priester, deren materielle Interessen mit der Erhaltung des Katholizismus verknüpft sind, so nennen wir sie Jesuiten. Sie mögen sich aber nicht einbilden, dass wir sie mit den älteren Jesuiten verwechseln. Diese waren groß und gewaltig, voll Weisheit und Willenskraft. Oh der schwächlichen Zwerge, die da wähnen, sie würden die Schwierigkeiten besiegen, woran sogar jene schwarzen Riesen gescheitert! Nie hat der menschliche Geist größere Kombinationen ersonnen als die, wodurch die alten Jesuiten den Katholizismus zu erhalten suchten. Aber es gelang ihnen nicht, weil sie nur für die Erhaltung des Katholizismus und nicht für den Katholizismus selbst begeistert waren. An letzterem, an und für sich, war ihnen eigentlich nicht viel gelegen. Daher profanierten sie zuweilen das katholische Prinzip selbst, um es nur zur Herrschaft zu bringen. Sie verständigten sich mit dem Heidentum, mit den Gewalthabern der Erde, beförderten deren Lüste, wurden Mörder und Handelsleute, und – worauf es ankam – wurden sie sogar Atheisten. Aber vergebens gewährten ihre Beichtiger die freundlichsten Absolutionen und buhlten ihre Kasuisten mit jedem Laster und Verbrechen. Vergebens haben sie mit den Laien in Kunst und Wissenschaft gewetteifert, um beide als Mittel zu benutzen. Hier wird ihre Ohnmacht ganz sichtbar. Sie beneideten alle großen Gelehrten und Künstler und konnten doch nichts Außerordentliches entdecken oder schaffen. Sie haben fromme Hymnen gedichtet, und Dome gebaut, aber in ihren Gedichten weht kein freier Geist, sondern seufzt nur der zitternde Gehorsam für die Oberen des Ordens, und gar in ihren Bauwerken sieht man nur eine ängstliche Unfreiheit, steinerne Schmiegsamkeit, Erhabenheit auf Befehl.

Die eingehende Bezugnahme auf die Jesuiten berührt merkwürdig, ist sie doch als Begründung für den metaphorischen Gebrauch des Schlagworts zu ausführlich und pathetisch.

Das anschließende Kapitel der Romantischen Schule, das, an die positive Wirkung von Schellings Naturphilosophie auf die romantische Dichtung anknüpfend, Hoffmann und Novalis behandelt, hat mich auf einen Text aufmerksam gemacht, zu dem sich m.E. interessante Bezüge von dem eben zitierten herstellen lassen. Es ist die 1826 aus dem Nachlass von Novalis veröffentlichte Schrift Die Christenheit oder Europa. In dieser in den Revolutionskriegen entstandenen Vision wird einem erneuerten überkonfessionellen Christentum die Kraft zugeschrieben, unter Verzicht auf geschichtlich-politische Aktivität das europäische Friedensreich zu erneuern, das im christlichen Mittelalter existiert habe und durch die Reformation gespalten worden sei. Als Retter preist Novalis nun die Jesuiten, die noch verboten waren, als seine Schrift entstand:

Zum Glück für die alte Verfassung tat sich jetzt ein neu entstandener Orden hervor, auf welchen der sterbende Geist der Hierarchie seine letzten Gaben ausgegossen zu haben schien, der mit neuer Kraft das Alte zurüstete und mit wunderbarer Einsicht und Beharrlichkeit, klüger als je vorher geschehen, sich des päpstlichen Reichs und seiner mächtigern Regeneration annahm. Noch war keine solche Gesellschaft in der Weltgeschichte anzutreffen gewesen. Mit größerer Sicherheit des Erfolgs hatte selbst der römische Senat nicht Pläne zur Welteroberung entworfen. Mit größerem Verstand war an die Ausführung einer größeren Idee noch nicht gedacht worden. Ewig wird diese Gesellschaft ein Muster aller Gesellschaften sein, die eine organische Sehnsucht nach unendlicher Verbreitung und ewiger Dauer fühlen, aber auch ewig ein Beweis, dass die unbewachte Zeit allein die klügsten Unternehmungen vereitelt, und das natürliche Wachstum des ganzen Geschlechts unaufhaltsam das künstliche Wachstum eines Teils unterdrückt. Alles Einzelne für sich hat ein eigenes Maß von Fähigkeit, nur die Kapazität des Geschlechts ist unermesslich. Alle Pläne müssen fehlschlagen, die nicht auf alle Anlagen des Geschlechts vollständig angelegte Pläne sind. Noch merkwürdiger wird diese Gesellschaft als Mutter der sogenannten geheimen Gesellschaften – eines jetzt noch unreifen, aber gewiss wichtigen geschichtlichen Keims. Einen gefährlichern Nebenbuhler konnte der neue Lutheranismus, nicht Protestantismus, gewiss nicht erhalten. Alle Zauber des katholischen Glaubens wurden unter seiner Hand noch kräftiger, die Schätze der Wissenschaften flossen in seine Zelle zurück. Was in Europa verloren war, suchten sie in den andern Weltteilen, in dem fernsten Abend und Morgen, vielfach wieder zu gewinnen und die apostolische Würde und Beruf sich zuzueignen und geltend zu machen. Auch sie blieben in den Bemühungen nach Popularität nicht zurück und wussten wohl wie viel Luther seinen demagogischen Künsten, seinem Studium des gemeinen Volks zu verdanken gehabt hatte. Überall legten sie Schulen an, drangen in die Beichtstühle, bestiegen die Katheder und beschäftigten die Pressen, wurden Dichter und Weltweise, Minister und Märtyrer und blieben in der ungeheuren Ausdehnung von Amerika über Europa nach China in dem wunderbarsten Einverständnis der Tat und der Lehre. Auf ihren Schulenrekrutierten sie mit weiser Auswahl ihren Orden.

Mir erscheint Heines Text als eine wörtliche Entgegnung auf diesen. Allerdings fehlt jeder Beleg, dass er ihn gekannt hätte. [...]

Als Heine 1835 die Arbeiten über die Literatur für die Buchpublikation der Romantischen Schule überarbeitete und ergänzte, änderte er in diesem Sinne auch die Indifferentismus-Passage des ersten Artikel:

Es ist leider wahr, wir müssen es eingestehen, nicht selten hat der Pantheismus die Menschen zu Indifferentisten gemacht. [...] Aber das ist eben der Irrtum: Alles ist nicht Gott, sondern Gott ist Alles – Gott manifestiert sich nicht in gleichem Maße in allen Dingen, er manifestiert sich vielmehr nach verschiedenen Graden in den verschiedenen Dingen, und jedes trägt in sich den Drang einen höheren Grad der Göttlichkeit zu erlangen. Und das ist das große Gesetz des Fortschritts der Natur. Die Erkenntnis dieses Gesetzes, das am tiefsinnigsten von den Saint-Simonisten offenbart worden, macht jetzt den Pantheismus zu einer Weltansicht, die durchaus nicht zum Indifferentismus führt, sondern zum aufopferungssüchtigsten Fortstreben. Nein, Gott manifestiert sich nicht gleichmäßig in allen Dingen, wie Wolfgang Goethe glaubte, der dadurch ein Indifferentist wurde, und statt mit den höchsten Menschheitsinteressen sich nur mit Kunstspielsachen, Anatomie, Farbenlehre, Pflanzenkunde oder Wolkenbeobachtungen beschäftigte – Gott manifestiert sich in den Dingen mehr oder minder, er lebt in dieser beständigen Manifestation. Gott ist in der Bewegung, in der Handlung.

Aus dieser neuen, sozialen Dimension des modernen Pantheismus formulierte er in der Geschichte der Religion und Philosophie ein Programm: [...] Ausdrücklich geht er über die Forderung Saint-Justs und seiner eigenen republikanischen Zeitgenossen hinaus: nicht die "Menschenrechte des Volks", sondern die "Gottesrechte des Menschen", nicht das einfache Brot, sondern "Nektar und Ambrosia" sind gefragt. "Wir stiften eine Demokratie gleichherrlicher, gleichheiliger, gleichbeseeligter Götter." Damit setzt er sich eigentlich von den Lehren der Saint-Simonisten ab, die gesellschaftlichen Reichtum nach Verdienst und Leistung verteilen wollten und in ihrem Kultus eine strenge Hierarchie zelebrierten. Im Unterschied zur Neufassung der Indifferentismus-Passage in der Romantischen Schule (die eine appellative Funktion hat) zitiert er sie hier nicht als die Initiatoren, sondern bemerkt etwas vage: "Die Saint-Simonisten haben etwas der Art begriffen und gewollt. Aber sie standen auf ungünstigem Boden, und der umgebende Materialismus hat sie niedergedrückt, wenigstens für einige Zeit." Der Pantheismus sei "die verborgene Religion Deutschlands". Er "blühte praktisch in der deutschen Kunst", noch ehe er sich in der Philosophie durchgesetzt hatte. Bei Goethe sei die antike Sinnenfreude mit dem christlichen Seelenverständnis zu einem modernen Pantheismus verbunden: "Goethe war der Spinoza der Poesie."
Damit wird auch die "Kunstperiode" als wichtige Entwicklungsetappe in Heines Vorstellung vom Ablauf der Geistes- und Menschheitsgeschichte eingeordnet und – unausgesprochen – vom Vorwurf der Selbstgenügsamkeit entlastet. Ja, Heine macht sogar seinen Frieden mit den konvertierten Romantikern, indem er ihrem "Heimweh nach der katholischen Mutterkirche" und der Vorliebe für die Volkstraditionen "eine bei ihnen plötzlich erwachte aber unbegriffene Zurückneigung nach dem Pantheismus der alten Germanen" zugrunde legt.
Auf Schellings Abfall kommt Heine in der "Geschichte der Religion und Philosophie" ebenfalls zu sprechen, aber in weniger scharfen Worten als in den Literaturartikeln. Emphatisch bezeichnet er den frühen Schelling als den "Mann, welcher einst am kühnsten in Deutschland die Religion des Pantheismus ausgesprochen, welcher die Heiligung der Natur und die Wiedereinsetzung des Menschen in seine Gottesrechte am lautesten verkündete," und beinahe gelassen erklärt er die Wendung zum Katholizismus als eine naturgesetzmäßige Folge von Alter und Sinnesschwäche. [...]

Wegen ihres methodischen, erkenntniskritischen Vorgehens sei "die deutsche Philosophie" [...] eine wichtige, das ganze Menschengeschlecht betreffende Angelegenheit [...] Durch diese Doktrinen haben sich revolutionäre Kräfte entwickelt, die nur des Tages harren, wo sie hervorbrechen und die Welt mit Entsetzen und Bewunderung erfüllen können. [...] So wird der Naturphilosoph dadurch furchtbar sein, dass er mit den ursprünglichen Gewalten der Natur in Verbindung tritt, dass er die dämonischen Kräfte des altgermanischen Pantheismus beschwören kann, und dass in ihm jene Kampflust erwacht, die wir bei den alten Deutschen finde, und die nicht kämpft um zu zerstören, noch um zu siegen, sondern bloß um zu kämpfen.

Und dann folgt eine oft zitierte und apostrophierte Passage, eine m.E. beklemmende Prophezeiung dieses zukünftigen Ausbruchs, vor dessen nationalem – um nicht zu sagen nationalistischem – Rigorismus Heine die Franzosen warnt. Freilich trägt diese Schilderung auch komische Züge, und vielleicht ist sie nicht ganz ernst gemeint – dennoch ist sie das letzte Wort in diesem Text, in dem so großartige Programme für "das materielle Glück der Völker, [...] die Gottesrechte des Menschen" entwickelt worden waren.
Nach diesen großen Entwürfen zur Geistes- und Gesellschaftsgeschichte, deren Radikalität in Deutschland durch scharfe Zensureingriffe geahndet und in Frankreich in einem umfangreichen Brief Enfantins an Heine letztlich als zu wenig pragmatisch und diplomatisch kritisiert worden war ...