September 23, 2009

Tötet sie alle!


from The Holy Blood and the Holy Grail volume 1, chapter 2

Im Jahre 1209 fiel ein 30.000 Mann starkes Heer aus Nordfrankreich gleich einem Sturm im Languedoc ein. In den folgenden kriegerischen Auseinandersetzungen wurde die gesamte Region verwüstet, die Ernten wurden vernichtet, Dörfer und Städte dem Erdboden gleichgemacht und ein Großteil der Bevölkerung umgebracht. Die Vernichtung allen Lebens nahm ein so entsetzliches Ausmaß an, dass man sie mit Fug und Recht als ersten Genozid der modernen europäischen Geschichte bezeichnen kann. So wurden z.B. allein in der Stadt Béziers 15.000 Männer, Frauen und Kinder niedergemetzelt. Ein Offizier, der den Vertreter des Papstes fragte, wie er denn Ketzer und Rechtgläubige voneinander unterscheiden könne, erhielt zur Antwort: "Tötet sie alle! Gott wird die Seinen erkennen." In einem Brief an Papst Innozenz III. teilte derselbe päpstliche Vertreter seinem Herrn stolz mit, dass "weder auf Alter noch Geschlecht oder Stellung Rücksicht" genommen worden sei. ["Außerdem verspreche und erkläre ich, dass, wenn sich die Gelegenheit bietet, ich einen unbarmherzigen Krieg führe, geheim oder offen, gegen alle Ketzer, Protestanten und Liberale, wie es mir zu tun befohlen ist, um sie von der Erdoberfläche auszurotten und zu vertilgen. Und ich werde weder vor Alter, Geschlecht noch gesellschaftlicher Stellung haltmachen und diese abscheulichen Ketzer hängen, verwüsten, sieden lassen, häuten, erwürgen und lebendig begraben, die Bäuche der Frauen aufschlitzen und die Köpfe der Kinder gegen die Wand schmettern, um ihre verfluchte Art für immer auszulöschen. Und wenn ich dies nicht öffentlich tun kann, so werde ich das mit Giftkelch, Strang, Dolch, Kugel heimlich tun, ungeachtet der Ehre, des Ranges, der Würde oder der Autorität der Personen, ohne Rücksicht auf ihre Stellung im öffentlichen oder privaten Leben ... wie und wann immer es mir von irgendeinem Agenten des Papstes oder von einem Vorgesetzten der Bruderschaft des heiligen Glaubens der Gesellschaft Jesu befohlen wird."] Der Fall von Bézier bildete den Auftakt für die weiteren Eroberungszüge der Invasoren im Languedoc: Perpignan, Narbonne, Carcassonne und Toulouse fielen. Wo immer die Sieger hinkamen, hinterließen sie eine blutige Spur.
Die Albigenserkriege, zu denen Papst Innozenz III. aufgerufen hatte, dauerten rund zwanzig Jahre. Ebenso wie die Kreuzfahrer im Heiligen Land hefteten auch die Teilnehmer an diesem Kreuzzug rote Kreuze an ihre Gewänder. Und auch der Lohn war der gleiche: Vergebung aller Sünden, ein sicherer Platz im Himmel und alle Beute, die gemacht wurde. Der besondere Vorzug dieser Unternehmung bestand darin, dass man nicht einmal übers Meer zu fahren brauchte. Nach feudaler Rechtsauffassung war niemand verpflichtet, länger als vierzig Tage zu kämpfen – vorausgesetzt er war nicht an Plünderungen interessiert.
Nach Beendigung der Kämpfe war das Languedoc nicht mehr wiederzuerkennen und in die Rückständigkeit zurückgeworfen worden, wie sie für das restliche Europa charakteristisch war. Worin lagen die Ursachen für diese sinnlose Grausamkeit und Zerstörungswut?

Zu Beginn des 13. Jh. gehörte das Gebiet, das wir heute Languedoc nennen, offiziell nicht zum Königreich Frankreich. Es war eine unabhängige Grafschaft, deren Sprache, Kultur und politische Einrichtungen weniger mit dem Norden gemein hatten als vielmehr mit den spanischen Königreichen Aragón und Kastilien. Die Grafschaft wurde von einigen wenigen adligen Familien regiert, deren bedeutendste die Grafen von Toulouse und das mächtige Haus Trencavel waren. In ihr herrschte eine überaus fortschrittliche und hochentwickelte Kultur, die – Byzanz vielleicht ausgenommen – in der damaligen christlichen Welt ihresgleichen nicht hatte.
Es gab viele Gemeinsamkeiten zwischen dem Languedoc und Byzanz. Im Gegensatz zu Nordeuropa stand die Gelehrsamkeit hier in hohem Ansehen. Dichtung und Minnesang wurden gepflegt und Philosophie, Griechisch, Arabisch sowie Hebräisch mit Begeisterung studiert. In Lunel und Narbonne existierten Schulen, die sich mit der Kabbala, der alten jüdischen Mystik, beschäftigten. Selbst der Adel war literarisch gebildet – zu einer Zeit, da die meisten Adligen des Nordens nicht einmal ihren Namen schreiben konnten.
Wie in Byzanz so herrschte auch im Languedoc eine gewisse religiöse Toleranz, die sich grundlegend von dem Fanatismus in anderen Teilen Europas unterschied. Über Handelszentren wie Marseille z.B. gelangte islamisches und jüdisches Gedankengut ins Land. Gleichzeitig erfuhr die römisch-katholische Kirche nur eine geringe Wertschätzung. Vor allem die notorische Korruptheit ihrer Kleriker entfremdete das Volk der Kirche. Da gab es Kirchen, in denen schon seit über dreißig Jahren keine Messe mehr gelesen worden war.
Der kulturelle Höhepunkt im Languedoc, ein Höhepunkt, den Europa erst wieder in der Renaissance erleben sollte, konnte jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass verstärkt Anzeichen von Selbstgefälligkeit, Dekadenz und gedankenloser Unbekümmertheit auftraten. Das hatte zur Folge, dass das Land auf den Ansturm, der gegen es entfesselt wurde, nicht im Geringsten vorbereitet war. Schon seit Jahren hatte der nordfranzösische Adel neidvolle Blicke auf den Reichtum und den Luxus des Südens geworfen. Und auch die Kirche hatte ihre Gründe, sich für das Languedoc zu interessieren: ihre Autorität war nämlich in der ganzen Region im Schwinden begriffen. Denn im Languedoc blühte neben der Kultur auch noch etwas anderes: die größte Häresie der mittelalterlichen Christenheit.

Das Gebiet sei von der albigensischen Ketzerei "infiziert", "dem stinkenden Aussatz des Südens", erklärten kirchliche Würdenträger. Sie stellte, obwohl die Anhänger dieser Irrlehre grundsätzlich der Gewalt abgeschworen hatten, eine ernsthafte Bedrohung für die römische Amtskirche dar, jedenfalls die ernsteste, der sie ausgesetzt sein sollte, bis drei Jahrhunderte später die Lehren Martin Luthers die Reformation einleiteten. Um 1200 bestand die sehr reale Möglichkeit für diese Irrlehre, den römischen Katholizismus im Languedoc aus seiner Vormachtstellung zu verdrängen. Und nicht nur dort: schon griff sie auch auf andere Teile Europas über, insbesondere auf die größeren Städte Deutschlands, Flanderns und der Champagne.
Zahlreich war die Bezeichnungen für diese Häretiker. Ein Kirchkonzil, das 1165 in Albi stattfand, verurteilte ihre Lehren. Da diese Stadt gleichzeitig das Zentrum ihrer Bewegung war, wurden sie fortan Albigenser genannt. Daneben war auch der Begriff Katharer gebräuchlich. Nicht selten versuchte man sie dadurch zu diskriminieren, dass man sie mit den Namen früherer religiöser Bewegungen belegte – wie etwa Arianer, Markioniten oder Manichäer.
Die Begriffe Albigenser und Katharer bezogen sich nicht auf eine einzige, einheitlich strukturierte Kirche mit einer fest umrissenen und kodifizierten theologischen Lehrmeinung. Die Gemeinde der Katharer umfasste vielmehr eine Fülle unterschiedlich orientierter Sekten. Diese mochten zwar durch gewisse gemeinsame Prinzipien miteinander verbunden sein, im Detail unterschieden sie sich jedoch gewaltig. Hinzu kommt, dass der größte Teil unseres Wissens über die Ketzer aus offiziellen kirchlichen Quellen wie z.B. der Inquisition stammt. Dieser Umstand macht es nahezu unmöglich, einen zusammenhängenden oder abschließenden Überblick dessen zu geben, was die katharische Lehre letztlich im Kern ausmachte.

Im Allgemeinen bekannten sich die Katharer zu der Lehre der Wiedergeburt und der Gleichrangigkeit des männlichen und weiblichen Prinzips in der Religion. Folglich waren auch die Prediger und Lehrer katharischer Gemeinschaften, die sogenannten Parfaits (die Vollkommenen), beiderlei Geschlechts. Gleichzeitig distanzierten sie sich von Rom und machten jeder kirchlichen Hierarchie den Anspruch streitig, als Mittlerin zwischen Gott und Menschen zu wirken. Darin drückte sich eine der wichtigsten Lehrmeinungen der Katharer aus: die Ablehnung des "Glaubens" – zumindest in der Form, wie die Kirche ihn von ihren Gläubigen verlangte. Anstelle eines "Glaubens" aus zweiter Hand beharrten die Katharer auf unmittelbarer und persönlicher Erkenntnis. Diese religiöse oder mystische Erfahrung wollten sie ohne fremde Hilfe in sich aufnehmen. Nach dem griechischen Wort für "Erkennen" wurde dieses Erleben Gnosis genannt.
Darüber hinaus waren die Katharer auch strenge Dualisten. Natürlich kann man die ganze christliche Gedankenwelt dualistisch, d.h. als Konflikt zwischen zwei gegensätzlichen Prinzipien, sehen – Gut und Böse, Geist und Fleisch, Hoch und Niedrig. Die Katharer jedoch verschärften diese Dichotomie noch mehr, als der orthodoxe Katholizismus dies zu tun bereit war. Nach ihrer Auffassung wurde in der gesamten Schöpfung ein immerwährender Kampf zwischen zwei unversöhnlichen Prinzipien ausgetragen – Licht und Finsternis, Geist und Materie, Gut und Böse. Der Katholizismus postuliert das Vorhandensein eines höchsten Gottes, dessen Gegner, der Teufel, ihm letztlich untergeordnet ist. Die Katharer hingegen erkannten die Existenz von zwei mehr oder minder ebenbürtigen Gottheiten an. Der eine dieser Götter – der "Gute" – besaß keinen menschlichen Leib, sondern war ein rein geistiges Wesen oder Prinzip, frei von jedem irdischen Makel. Er war der Gott der Liebe ("Amor"). Liebe und Macht aber ließen sich nicht miteinander vereinen. Die stoffliche Schöpfung galt den Katharern als Ausfluss dieser Macht und war deshalb von Grund auf Böse. Kurzum, sie betrachteten das Universum als das Werk eines usurpatorischen Gottes, des Gottes des Bösen, den sie "Rex Mundi" (König der Welt) nannten.

Ein Fall von schwerer Ketzerei sah die katholische Kirche eben darin, dass die Katharer die Schöpfung, um derentwillen Christus gestorben war, als abgrundtief schlecht bezeichneten und Gott, dessen Wort "im Anfang" Himmel und Erde erschaffen hatte, als einen Usurpator betrachteten. Die schwerwiegendste Häresie bildete jedoch ihre Einstellung zu Christus. Da ihnen alle Materie als böse galt, leugneten die Katharer, dass Jesus Menschengestalt angenommen habe und dennoch Gottes Sohn gewesen sei. In gewissen Katharer-Kreisen wurde er deshalb als völlig körperlos, als Phantom angesehen, das unmöglich gekreuzigt werden konnte. Die Mehrheit der Katharer hat in ihm einen Propheten gesehen, der sich in nichts von anderen Propheten unterschied – einen Sterblichen, der um des Prinzips der Liebe willen am Kreuz gestorben war. Somit stellte die Kreuzigung nichts Mystisches, nichts Übernatürliches dar – falls sie überhaupt irgendeine Bedeutung hatte, was viele Katharer bezweifelten.
In ihren Augen war das Kreuz – zumindest im Zusammenhang mit dem Kalvarienberg und der Kreuzigung – ein Sinnbild des "Rex Muni", der Antithese zum wahren Erlösungsprinzip. Ein sterblicher Jesus hingegen konnte nur als ein Prophet "Amors" gedacht werden. Sobald sich aber das Liebesprinzip in Macht umkehrte, wurde es zu "Roma" (Rom), dessen reiche und verschwenderisch lebende Kirche den Katharern als die sichtbare Manifestation der Oberherrschaft des "Rex Mundi" auf Erden erschien. Darum weiterten sie sich nicht nur das Kreuz anzubeten, sondern verwarfen auch Sakramente wie die Taufe oder die Kommunion.

Trotz dieser subtilen, komplexen und in unseren Augen vielleicht unerheblichen theologischen Positionen hingen viele Katharer religiösen Überzeugungen nicht mit fanatischem Eiferertum an. Heutzutage ist es unter Intellektuellen Mode geworden, in den Katharern eine Vereinigung von Weisen, von aufgeklärten Mystikern zu sehen, die alle ein großes, kosmisches Geheimnis miteinander teilten. In Wirklichkeit waren die meisten Katharer ganz gewöhnliche Männer und Frauen, denen ihr Glaube eine Zuflucht vor der Strenge des orthodoxen Katholizismus bot und eine Befreiung von den drückenden Zehnten, Bußübungen, Gebühren für Totenmessen und anderen Lasten sowie Pflichten, die ihnen die römische Kirche auferlegte. [...] Aus vielerlei Gründen fühlten sich zahlreiche Adlige vom katharischen Glauben angesprochen. Einige bestach dessen Toleranzgebot. Andere waren antiklerikal eingestellt. Wieder andere waren durch die Korruptheit der Kirche desillusioniert worden. Und nicht wenige wünschten ein Ende des Zehntwesens herbei, das große Teile ihrer Einkünfte in den päpstlichen Schatzkammern verschwinden ließ. Aus diesen Gründen wurden viele Adlige im Alter Parfaits. Schätzungen zufolge rekrutierten sich 30% der Parfaits aus dem Adel des Languedoc.

Im Jahr 1145, rund sechseinhalb Jahrzehnte vor den Albigenserkriegen, war Bernhard von Clairvaux durch das Languedoc gereist, um gegen die Häretiker zu predigen. Weniger die Katharer als vielmehr der desolate Zustand seiner eigenen Kirche entsetzte ihn. Von den Katharern beeindruckt, erklärte er: "Sicherlich gibt es keine christlicheren Predigten als die ihren, und ihre Sitten waren rein."
Um das Jahr 1200 war Rom ob dieser Entwicklung zutiefst beunruhigt. Ebenso war der Aufmerksamkeit des Heiligen Stuhls nicht entgangen, wie begehrlich der nordfranzösische Adel auf die Städte und das reiche Land im Süden blickte. Macht man sich diesen Neid zunutze, dann konnten die Herren des Nordens die Sturmtruppen der Kirche bilden. Alles, was der Kurie nur mehr noch fehlte, war ein Anlass, irgendein Vorwand, mit dem sie die öffentliche Meinung gegen die Katharer aufbringen konnte.
Ein solcher Vorwand bot sich bald. Am 14. Januar 1208 wurde Pierre de Castelnau, einer der päpstlichen Legaten im Languedoc, ermordet. Als Urheber dieser Tat, die vermutlich von kirchenfeindlichen Kräften verübt worden war, die mit den Katharern gar nichts zu tun hatten, machte Rom letztere verantwortlich. Unverzüglich rief Papst Innozenz III. zu einem Kreuzzug gegen sie auf: die Ketzer sollten ein für allemal ausgerottet werden. Ein starkes Heer wurde ausgehoben und unter das geistliche Kommando des Abtes von Clairvaux gestellt. Mit den militärischen Operationen betraute man Simon de Montfort – den Vater jenes Mannes, der später noch eine entscheidende Rolle in der englischen Geschichte spielen sollte. Unter Montforts Führung machten sich die Kreuzfahrer des Papstes nun daran, die am höchsten entwickelte Kultur des Mittelalters in Schutt und Asche zu legen.